Thomas M. Bohn. Novye Šejpiči – Niemandsland oder Schelmenroman?Belarussischer Alltag in der Chruščev-Zeit
Um dem Wachstum der Gro.stadte entgegenzuwirken, forderte Chruščev auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 eine rationelle Verteilung der Industrie und eine Regulierung der Migrationsstrome. Das System der „geschlossenen Stadte“ (zakrytye goroda) schob dem unbegrenzten Zuzug in die urbanen Zentren zwar einen Riegel vor, indem eine Aufenthaltsgenehmigung vom Nachweis eines der sanitaren Norm entsprechenden Wohnraums abhangig gemacht wurde. Wie das Beispiel Minsk zeigt, wurden die Restriktionen jedoch in der Praxis auf mannigfache Weise unterlaufen. Schlupflocher resultierten aus dem latenten Dauerkonflikt zwischen dem Sowjet und den Betrieben. Wahrend die Industriebosse auf die extensive Nutzung von Arbeitskraften setzten, ging es den Stadtvatern darum, die Bevolkerung mit Wohnraum zu versorgen und die Lebensbedingungen zu verbessern. Allerdings geriet der Wohnungsbau erst 1961 zur Ganze unter staatliche Kontrolle. Weil die Betriebe ihren diesbezuglichen Verpflichtungen nur ungenugend nachgekommen waren, verblieb der Bevolkerung in den 1950er Jahren mitunter als einziger Ausweg aus der Wohnungsmisere nur die „eigenmachtige Bautatigkeit“ (samovol’noe stroitel’stvo). Auf diese Weise wurden auf den Grundstucken von Privathausern „Schuppen“ (vremjanka) errichtet und an Arbeitsmigranten vermietet oder am Stadtrand in quasi rechtsfreien Raumen „Barackensiedlungen“ (šanghajki) errichtet.